11.3) Rechnungsbearbeitung

Dorthin hatte man mich gesetzt, obwohl klar war, dass es sich dabei um Skonto-Fristen handelte, die unbedingt eingehalten werden mussten.
Täglich!
Mein Einwand, dass ich ja nicht jeden Tag da sei, wurde von Herrn O… zur Kenntnis genommen. Aber das war es dann auch.

Stell dir das etwa so vor:
Ich bekam Rechnungen von verschiedenen Firmen, zum Beispiel der Wäscherei.
Um sie zu bezahlen, musste ich ein Formular ausfüllen. Da es ja zu dieser Zeit noch nicht so viele Computer gab, saß ich dafür an einer Schreibmaschine.
Das Formular wurde in 3-facher Ausfertigung geschrieben, was bedeutete, Kohlepapier zwischen die Seiten legen.
Das war es eigentlich schon.
Wörter, Zahlen und Buchstaben in ein Formular tippen. Genau in die dafür vorgesehenen Felder natürlich.
Eine Schreibkraft, so gesehen.

Da man weniger bezahlen musste, wenn eine Firma Skonto bei zum Beispiel 30 Tagen gewährte, musste man diese Fristen unbedingt einhalten.
Das lag in meiner Verantwortung.
Da so eine Rechnung durch viele Hände wanderte, und auch nach mir noch, war es wichtig, das Ganze pünktlich zu bearbeiten.

Bei den Formularen musste der Betrag in Zahlen und Buchstaben fehlerfrei getippt werden. Verbessern, wie heute am Computer, gab es nicht.
Also, einmal vertippt bedeutete ein neuer Versuch.
Ich wollte nicht im Haupthaus sein. Nicht im Vorzimmer vom Chef. Nicht an dieser Schreibmaschine.

Habe ich erwähnt, dass ich die Dinger hasste?
Hätte ich Schreibkraft werden wollen, hätte ich das gelernt, und nicht Verwaltungsfachangestellte. Jetzt war ich eine.
Frau Y… lernte mich ein. Sie hatte diesen Posten vor mir und erklärte, dass sie diese Arbeit in 5 Tagen beinahe nicht bewältigen konnte.
»Da können Sie das niemals in 3 Tagen schaffen.«
Ich dachte: »Wieso in aller Welt, gab man mir dann diesen Posten?«

Aber sie hatte auch meinen Ehrgeiz geweckt.
Ich hatte im Haupthaus einen schlechten Ruf. Teils unberechtigt, aber sicher habe ich auch dazu beigetragen. Da man hier ja wusste, dass ich sowieso nicht mittrinken wollte, wurde ich zur Kaffee-Runde gar nicht erst eingeladen.
Im technischen Bereich war das kein Problem.

Hier konnte ich die Zeit auch in meinem Büro verbringen und mich mit meiner Schreibmaschine anfreunden.
Und das tat ich!
Anfangs schlichen sich noch einige Fehler ein, weshalb ich so manches Formular mehrfach tippen musste. Aber mit der Zeit wurde ich immer sicherer und schneller.
Ich werde diese Arbeit schaffen, das schwor ich mir.
Und ich schaffte es!

Das ›Unvorstellbare‹.
Ich erledigte alles, was Montag, Mittwoch und Freitag auf meinem Tisch lag, obwohl Dienstag und Donnerstag alles liegen blieb.
Ich war Herr meines kleinen Büros. Klein, aber mein. Meine neue Freundin, die Schreibmaschine.
Ohne lange Kaffee-Runden oder interne Feiern, wo mich sowieso keiner wollte, war die Arbeit auch in 3 Tagen zu schaffen.

Das brachte mich zum nächsten Problem.
Ich war zu schnell!
Da Frau Y. allen erzählte, dass ihre Arbeit – jetzt meine – in 5 Tagen kaum zu schaffen war, war es natürlich unmöglich, dass die Kranke das in 3 Tagen hinkriegen würde.
UNMÖGLICH!

Ich hatte mich sowieso in meinem Büro verschanzt, was vielleicht ein Fehler war. Wäre ich auf die Menschen zugegangen, wer weiß.
Da war ein Kollege, MD…, der war nett. Mit ihm verstand ich mich sehr gut. Aber sonst war da keiner.
Als ich also das ›Unmögliche‹ schaffte, wäre Frau Y. in einem schlechten Licht gestanden. Da war es sehr viel einfacher, mich schlecht zu machen.

Tja, ich war sowieso schon die Kranke, dumme, blau machende, nur 3 Tage arbeitende und 5 Tage Geld bekommende, usw. usw. usw.
Wie es genau ablief, weiß ich nicht. Aber die Erbsenzählerei und Fehlersucherei ging wieder los. Und es wurde immer schlimmer.
Konnte ja nicht sein, dass ich Kranke was hinbekam.
Ich passte peinlich genau auf, dass mir ja kein Tippfehler passiert, oder ihn nicht bemerkte, genau wie die Wochen davor.

Das Problem war: Ich entwickelte eine Panik, etwas falsch zu machen.
Ständig kontrollierte ich jedes Formular, zum Teil 10 Mal und mehr.
Wenn Herr O… dann einen Tippfehler fand, wurde ich zu ihm gerufen und er hielt ihn mir vor die Nase.
Dann wurde ich noch panischer. Und je panischer ich wurde, desto unsicherer wurde ich. Ich prüfte jeden Buchstaben und jede Zahl x mal. Wieder und wieder und wieder. 10-mal, 20-mal und mehr.
ES WAR EIN DESASTER!

Meine neue Freundin Schreibmaschine wurde wieder zum Hassobjekt.
Immer öfter wurde ich krank, was die Sache nicht besser machte.
Dialysetage, samt Kotzerei wurden, im Gegensatz zur Arbeit, Erholung.

Nur mal ein Beispiel:
An einem Tag war ein Riesen Stapel Rechnungen auf meinem Schreibtisch. Da ich wusste, dass ich am nächsten Tag nicht da war, habe ich alles abgearbeitet.
Immer wieder kontrollierte ich alles von vorne. Immer, und immer wieder voller Panik, es könnte sich ein Fehler eingeschlichen haben.
Ich wusste, der Chef würde nach einem suche. Er sollte auf keinen Fall fündig werden.
Erst als ich ganz sicher war, na ja, besser gesagt, so sicher wie möglich, habe ich den Stapel Herrn O… auf den Schreibtisch gelegt. Er musste jedes Formular unterschreiben, bevor es zur nächsten Stelle weiterging.
Damit die Skontofrist eingehalten wurde, war das am Tag darauf notwendig.

Ich hatte die Rechnungen am Montag bearbeitet. Am Dienstag sollte alles raus. Am Mittwoch kam ich wieder zur Arbeit, und sofort musste ich bei Herrn O… antreten.
OH JE!

Auf seinem Schreibtisch war meine gesamte Arbeit von Montag, die ja eigentlich weg sein sollte.
Irritiert sah ich auf den Stapel und fragte:
»Stimmt etwas nicht? Ich habe das Montag extra fertig gemacht, wegen der Skontofrist.«
Der Chef nahm das oberste Formular, drehte es zu mir und zeigte mit seinem Finger auf eine Stelle:
»Hier ist ein Fehler.«
Ich sah angestrengt, aber es dauerte ein wenig, bis ich diesen ›riesen‹ Fehler fand:
Statt FÜNFHUNDERT habe ich FUNFHUNDERT geschrieben. Statt dem Ü ein U.

»Das tut mir leid«, was sollte ich auch anderes sagen.
»Und der Rest?«, fragte ich und erwähnte vorsichtig die Skontofrist.
»Das ist ja wohl Ihre Schuld, wenn Sie ihre Arbeit nicht richtig machen.«
Dieser ganze Berg Arbeit blieb liegen, wegen einem U, statt einem Ü.
Wie viel Zeit musste er investiert haben, um diesen winzigen Fehler zu finden.

Er hätte nur diese eine Rechnung behalten können und alle Anderen offensichtlich fehlerfreien weiter schicken. Aber die Präsentation war mit dem Stapel natürlich beeindruckender.
Was für ein Shit!

Und wirksam, was mich betraf.
Meine Panik wurde immer größer.
Jedes Formular wurde von mir x-Mal kontrolliert.
Wort für Wort, Zahl für Zahl, Buchstabe für Buchstabe.
Wenn ich abends ging, hatte ich Panik vor jedem nächsten Arbeitstag.
So ging das weiter. Mit jedem kleinsten Fehler wurde ich noch panischer und übersah dabei irgendetwas. Ein nicht endender Kreislauf.

Noch heute wird alles, was ich schreibe x-fach von mir kontrolliert.
Dabei habe ich trotzdem ein schlechtes Gefühl.
Unsicherheit ist mein ständiger Begleiter.

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